2022: Ein Jahr der Extreme
Von Marcus Christoph
Buenos Aires - Was für ein Jahr: 2022 wird aus argentinischer Sicht auf lange Zeit mit dem glanzvollen Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft in Verbindung bleiben, den Lionel Messi und seine Mitspieler am 18. Dezember durch den Finalsieg gegen Frankreich feierten. Ich muss zugeben, dass ich ein solches Husarenstück der argentinischen Nationalmannschaft um ihren mittlerweile 35-jährigen Superstar nicht unbedingt erwartet hatte. Aber als mit zunehmender Turnierdauer die Leistungen des Teams von Trainer Lionel Scaloni immer besser wurden, reifte in mir der Plan, meinen eigentlich für den 15. Dezember (Freitag) terminierten Flug nach Deutschland um eine Woche zu verschieben. Drei Tage vor der ursprünglich geplanten Abfahrt, stand fest: Argentinien war durch einen 3:0-Sieg gegen Kroatien tatsächlich wieder in ein Endspiel um die Fußball-WM eingezogen. Messi vor der Krönung. Und das auch noch im Hochsommer der Südhalbkugel, auf der normalerweise Weltmeisterschaften nur zur Winterzeit stattfinden.
Keine Frage, wenn ich Historisches miterleben wollte, musste ich den Flug ändern, was dann auch problemlos klappte. Die Entscheidung, noch eine entscheidende Woche länger in Buenos Aires zu bleiben, war zweifellos die beste, die ich seit Langem getroffen habe. Denn das, was folgte, wird sicher für immer als einmalig in Erinnerung bleiben.
Es begann schon mit der einzigartigen Atmosphäre beim Public Viewing auf der Plaza Seeber, einer Grünanlage im Stadtteil Palermo. Allenthalben Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder in himmelblau-weißen Trikots in gespannter Erwartung. Die Spieler im fernen Katar taten ihr Übriges, um die Unterhaltung in der glühenden Mittagshitze noch zu steigern. Für manche sicherlich ein bisschen zu viel des Guten. Denn dass Argentinien sich gleich zweimal die Führung aus der Hand nehmen ließ, hätte dann als Nervenkitzel vielleicht doch nicht Not getan. So musste - wie so oft bei epischen Fußballschlachten - am Ende ein Elfmeterschießen entscheiden. Noch einmal durchatmen, mitfiebern - und schließlich befreit und losgelöst von allen Sorgen die Freude über den Siegtreffer hinausschreien. Als Gonzalo Montiel den entscheidenden Elfer im Tor der Franzosen unterbrachte, lagen sich die Menschen in den Armen. Gefühlt minutenlang wollte der Jubel nicht verhallen.
Die Entscheidung, noch eine entscheidende Woche länger in Buenos Aires zu bleiben, war zweifellos die beste, die ich seit Langem getroffen habe. Denn das, was folgte, wird sicher für immer als einmalig in Erinnerung bleiben.
Nach der Siegerehrung zog dann die große Masse der Tausenden in Richtung „9 de Julio“. Die Avenida Santa Fe war quasi zur Fußgängerzone umfunktioniert. Ein schier endloser Zug von Menschen bewegte sich in das Herz der Hauptstadt. Von manchen Häuserbalkons wehte Konfetti. Von einer Kirche grüßte ein Mann, der durch den weißen Kragen noch als Priester zu erkennen war, die vorbeiziehende Menge, indem er selig mit einem WM-Pokal aus Plastik winkte. Ausnahmezustand all über all. Glückliche Menschen in argentinischen Farben dann auch auf der „9 de Julio“. Man hatte das Gefühl, dass für einen kurzen Moment alle vereint waren: Arme, Reiche, Kirchneristas, Macristas - und welche Trennlinien es in diesem normalerweise politisch und wirtschaftlich so tief gespaltenen Land es auch sonst noch geben mag. Wenn sich doch nur etwas von diesem Geist für den Alltag konservieren ließe.
Der zweite Akt dieses ganz großen Dramas sollte zwei Tage später erfolgen. Die Mannschaft um Messi war mittlerweile in Argentinien angekommen. Nach einer kurzen Nacht auf dem Gelände des Fußballverbands AFA in Ezeiza erwartete die Millionenmetropole ihre Helden. Doch eine vollständige Siegesparade wurde es bekanntermaßen doch nicht. Statt Selfie mit Messi und WM-Pokal vor dem Obelisken oder beim Präsidentenpalast sahen die stundenlang in der Innenstadt wartenden Massen nur die Hubschrauber-Ehrenrunde der Spieler in luftiger Höhe. Da waren sicher viele enttäuscht. Mir bleibt neben den Menschenmassen, die in der Stadt unterwegs waren, vor allem die Planlosigkeit in Erinnerung. Jeder hatte etwas anderes gehört, wo denn nun der Mannschaftsbus gerade sei und vor er schließlich lang fahren würde.
Am Ende gab es dann statt Jubel auch noch hässliche Bilder. Aber die Randalierer stellen sicher nur eine kleine Minderheit dar. Schade nur, dass sie es immer wieder schaffen, dem Geschehen ihren Stempel aufzudrücken.
Für mich waren die Tage auch durch das plötzliche Interesse deutscher Medien an Argentinien besondere: So gab es verschiedene Interview- und Artikelanfragen aus Deutschland, die ich dann gerne annahm. Unter dem Strich: Eine unvergessliche Zeit. Dass Deutschland sich leider schon so früh von dem Turnier in Katar verabschiedet hatte, lag für mich gefühlt auf einmal schon lange zurück.
Ich fühlte mich den Argentiniern emotional sehr nahe. Das tat gut - zumal ich in diesem Jahr auch gewisse Entfremdungen erlebt hatte, die es im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Kriegs in der Ukraine gab.
Hatte ich aus Europa kaum andere Stimmen vernommen als solche, die Ablehnung gegen diesen von Moskau herbeigeführten Zivilisationsbruch zum Ausdruck brachten, war dies in Argentinien leider nicht ganz so einhellig. So gab es im Fernsehen, aber auch bei der schreibenden Zunft Stimmen, die sich auf die Seite des russischen Präsidenten Wladimir Putin schlugen – und zwar aus einem Lager, das für sich sonst in Anspruch nimmt, auf der moralisch „guten“ Seite zu stehen:
So stellte etwa der bekannte TV-Journalist Víctor Hugo Morales in der Hauptnachrichtensendung des viel gesehenen Senders C5N eher den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als den eigentlich Verantwortlichen des Krieges dar und bezeichnete die Landesverteidigung der Ukraine in gewisser Weise als unverantwortliche Kriegsverlängerung. In der als progressiv geltenden Zeitung „Página/12“ gab der Soziologe Atilio Borón der NATO die Schuld für den russischen Überfall auf das Nachbarland. Verkehrte Welt. Personen, die nach hiesigen Maßstäben politisch als „links“ einzuordnen sind, gaben nun einem brutalen Imperialisten wie Putin publizistischen Flankenschutz. In Deutschland sind die Putin-Freunde ja eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums zu finden.
Mich hat es jedenfalls erschüttert, dass bei - zumindest einigen - argentinischen Intellektuellen offenbar ein derart tief verwurzeltes antiwestliches Feindbild zu finden ist, dass sie die Realität völlig verzerrt wahrnehmen lässt und nach der Logik „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ sogar in einem Kriegstreiber wie Putin einen Verbündeten sehen. Bei einer privaten Feier traf ich ein gleichgeschlechtliches Paar, das angab, politisch dem Kirchner-Lager nahezustehen. Die beiden schlugen sich vehement auf die Seite Putins. Dass dieser in seinem Herrschaftsbereich homosexuelle Menschen diskriminieren lässt, blendeten sie offenbar komplett aus.
Auch einige Bekannte, die ich im Laufe meiner Zeit in Buenos Aires kennengelernt hatte, posteten auf Facebook Kommentare, die Verständnis für Putins Krieg zeigten. Dabei handelte es sich mitunter um Menschen, die ansonsten in Menschenrechtsfragen besonders sensibel und regelmäßig an den hiesigen Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die argentinische Militärdiktatur teilnehmen - was ja für sich genommen auch gut ist. Aber wenn Putin Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur anordnete, die Menschen froren, Angst hatten und aus ihrem Land flüchten mussten, kamen aus dem erwähnten Lager keine empörten Kommentare angesichts der Menschenrechtsverletzungen.
Der mittlerweile verstorbene Schriftsteller Ralph Giordano sprach einmal von einer „Internationalen der Einäugigen“. Diese bekämpften in einem Teil der Welt, was sie im anderen rechtfertigten oder verschwiegen. Diese zeitlos gültige Analyse trifft meines Erachtens auch in dem beschriebenen Fall zu.
Mich hat jedenfalls in fast 14 Jahren in Buenos Aires nichts mehr verstört, wie die intellektuelle Unterstützung bestimmter Kreise in Argentinien für Putin. Wobei ich andererseits davon ausgehe, dass die große Mehrheit der Argentinier den russischen Angriffskrieg ebenso ablehnt wie ich.
Nach anfänglichem Zögern hat sich ja auch die argentinische Regierung bei den Abstimmungen in der UNO gegen die russische Aggression ausgesprochen. Wobei es natürlich eine peinliche Randnotiz der Geschichte bleibt, dass Alberto Fernández Anfang Februar, als der Krieg schon in der Luft lag, nach Moskau fuhr und gegenüber Putin Argentinien als „Eintrittstor“ für Russland nach Lateinamerika anpries. Mein Wunsch für 2023 ist jedenfalls, dass dieser scheußliche Krieg ein Ende finden möge.
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