Von Juan E. Alemann
Argentinien ist in vielen Aspekten ein Ausnahmefall. Es geschehen Dinge, die sonst auf der Welt unmöglich sind. Dass Cristina Kirchner, gegen die zwölf Prozesse laufen, davon einige weit fortgeschritten und auf alle Fälle gut fundiert, die sich auf eine Korruption von gigantischem Ausmaß unter ihrer Präsidentschaft beziehen, die ohne sie nicht möglich gewesen wäre, Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin sein konnte, und dann noch gewählt wurde, wäre in keinem anderen Land möglich. Dass sie jetzt direkt mitregiert und dem Präsidenten vorschreibt, war er zu tun hat, ist in anderen Ländern noch unvorstellbarer. Auch die Tatsache, dass der Präsident jetzt einen Vorschlag der Justizreform im Kongress einreicht, mit der klaren Absicht, dass die Prozesse gegen Cristina mit Freispruch enden oder versanden, und zu diesem Zweck sogar den persönlichen Anwalt von Cristina in ein Beratungsgremium aufnimmt, ist weltweit unvorstellbar. Es ist einfach zu grotesk.
Dabei hat Argentinien eine Rechtsordnung, die sich formell nicht sehr von der unterscheidet, die in fortgeschrittenen Staaten besteht, auch eine Bevölkerung, die in Aspekten wie Ausbildung und kulturellen Gewohnheiten zum größten Teil nicht viel anders ist als in fortgeschrittenen Staaten. Das macht den Fall noch eigenartiger.
Doch Argentinien weist noch mehr Eigenarten auf. Es ist das einzige Land der ganzen Welt, das seit 75 Jahren eine zweistellige Inflation aufweist, die nur 1952 und dann von 1991 bis 2001 unterbrochen wurde, aber zeitweise dreistellig war und auch drei Hyperinflationswellen durchgemacht hat (1976, 1989 und 1990). Gegenwärtig haben nur Staaten höhere Inflationsraten, die wirtschaftlich auf einer viel niedrigeren Stufe liegen und/oder alles falsch gemacht haben, wie Venezuela. Argentinien ist auch das einzige Land mit acht Defaults.
Die argentinische Wirtschaft stagniert seit einem Jahrzehnt. Langfristig weist das Land zwar eine Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes von über 3 Prozent jährlich auf, aber mit großen Schwankungen und viel mehr Rezessionen als alle andere Staaten. Diese Instabilität ist schwer zu erklären. Objektiv betrachtet hätte Argentinien einen viel höheren Stand erreichen sollen. Denn das Land ist mit bedeutenden und vielfältigen natürlichen Ressourcen ausgestattet, wie kein anderes auf der Welt, hat eine Bevölkerung, die zum größten Teil europäischen Ursprungs ist und viel Talent aufweist, jetzt auch für Computertechnologie und was dazukommt, hat ein ausgedehntes Erziehungssystem, ein modernes Rechtssystem und eine bessere allgemeine Gesundheitsbetreuung als die meisten Länder der Welt. Es wäre einfacher, ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt als das gegenwärtige zu erklären.
Argentinien war im 19. Jahrhundert und bis Mitte des 20. ein Einwanderungsland. Ab 1880 strömten Menschen vorwiegend aus Europa massenweise nach Argentinien. Sie brachten weitgehend europäische Kultur ins Land und arbeiteten hart für ihren wirtschaftlichen Aufstieg und damit auch für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung. Jetzt ist Argentinien ein Auswanderungsland, mit der Eigenart, dass besonders gut ausgebildete junge Menschen emigrieren. Über zwei Millionen Argentinier wohnen im Ausland. Gleichzeitig kommen Einwanderer aus lateinamerikanischen Staaten ins Land, die kulturell auf einer niedrigeren Stufe stehen und sich weitgehend in Elendsvierteln niederlassen. All das ist ein weltweit einzigartiges Phänomen, das nicht umsonst ist: Denn die Ausbildung der Auswanderer hat dem Land viel gekostet, und dann fehlen sie der Wirtschaft, die immer mehr Fachkräfte und weniger ungelernte Arbeiter benötigt, die ins Land strömen.
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