Ein Jahr nach George Floyds Tod
Von Benno Schwinghammer
Minneapolis - Jemand hat die Umrisse eines Körpers auf den Asphalt gemalt, daneben stehen Kerzen. Sie markieren den Ort, auf den die Welt vor einem Jahr in Schock starrte. Hier, an der trostlosen Ecke 38. Straße/Chicago Avenue im Süden von Minneapolis wurde am 25. Mai 2020 der Afroamerikaner George Floyd vom weißen Polizisten Derek Chauvin vor laufenden Handykameras auf brutalste Weise getötet. Es folgten Massenproteste und jüngst der historische Schuldspruch für Chauvin. Gerechtigkeit verspüren viele Amerikaner aber lange nicht.
Der Tod Floyds sei der erste Fall von Polizeigewalt gewesen, der ihn auf die Straße getrieben habe, erzählt Toussaint Morrison. „Ich glaube, in jedem wurde durch die Folter von George Floyd etwas ausgelöst“, sagt der 39-jährige Aktivist aus Minneapolis. Die neuneinhalb Minuten, die Chauvin auf Floyds Hals kniete, bis dessen Herz wegen Sauerstoffmangel aufhörte zu schlagen, hätten Parallelen zur Folter von Sklaven durch deren Besitzer.
Keine 24 Stunden nach Floyds Tod, während sich das grausame Video des Polizeieinsatzes sich viral bis in die letzten Winkel der Erde verbreitete, stand Morrison - wütend und bestürzt - wie so viele Andere am Tatort. Bei einem Protest Tage später ergriff er erstmals das Mikro: „Ich weiß nicht, was es war, ich wollte nur etwas sagen“, erinnert er sich. Es sollten viele weitere Ansprachen folgen, mit denen der redegewandte Morrison bei den Demos bekannt wurde. Auch er selbst sei oft von der Polizei angehalten und belästigt worden. Nach dem Tod Floyds habe er keine Wahl gehabt und musste aktiv werden: „Ich finde, dass jeder Schwarze in Amerika in das Prisma der Rasse gezwungen wird, egal ob wir es wollen oder nicht.“
Die Sklaverei ist in den USA bereits seit mehr als 150 Jahren abgeschafft, seit gut fünf Jahrzehnten sind Schwarze rechtlich vollständig gleichgestellt - doch nur auf dem Papier. Die strukturelle Benachteiligung auf allen Ebenen zeigt sich an einigen Zahlen, zum Beispiel der geringeren Lebenserwartung oder das um etwa den Faktor zehn kleinere Durchschnittsvermögen einer schwarzen Familie im Vergleich mit einem weißen Haushalt.
Auch werden Afroamerikaner und andere Schwarze deutlich häufiger Opfer von Polizeigewalt. Aber manche Aspekte sind schwer messbar, darunter die alltäglichen Diskriminierungen, etwa beim Einkaufen oder im Berufsleben sowie die Angst vieler vor der Polizei. Dass die nicht unbegründet ist, zeigte sich in den Abendstunden des 25. Mai 2020, als die Polizei wegen des Vorwurfs einer Falschgeldzahlung in den Süden von Minneapolis gerufen wurde.
Wenig später war der 46-jährige Floyd tot. Seine letzten Worte „I can't breathe“ („Ich kann nicht atmen“) stehen heute unter den Umrissen seines Körpers am Tatort - ohne die Videos wären sie wohl für immer verhallt. Doch so wurden sie zum Schlachtruf für Millionen Amerikaner bei den folgenden Protesten. Nach Einschätzung der „New York Times“ entwickelte sich „Black Lives Matter“ („Schwarze Leben zählen“) zur womöglich größten Bewegung der US-Geschichte.
„George Floyd“ wurde auf den Straßen im ganzen Land skandiert - genauso wie die Namen anderer schwarzer Opfer von Polizeigewalt: Breonna Taylor, Rayshard Brooks, Atatiana Jefferson, Aura Rosser, Eric Garner, Tamir Rice oder zuletzt auch Daunte Wright, der erst vor wenigen Wochen getötet wurde. Die Liste ließe sich leicht erweitern.
Die Energie der Straße versetzte auch die Politik in Bewegung - obwohl sich der damalige US-Präsident Donald Trump weitgehend gegen die Demonstrationen positionierte und sich angesichts einiger Ausschreitungen als Präsident für „Recht und Ordnung“ inszenierte. Auf regionaler Ebene wurden dagegen teils große Versprechen gemacht: Stadträte in Minneapolis kündigten eine „neue, transformative“ Polizei an. Knapp ein Jahr später zieht sich das Vorhaben.
Aktivist Morrison sieht keine Fortschritte. Was sich in Minneapolis aber verändert habe, sei das Bewusstsein der Leute. Viele wüssten nun, wer ihre Abgeordneten sind und welche Details bei Reformen diskutiert würden. Auch gebe es Listen zu Polizisten, die durch brutales Verhalten aufgefallen seien.
Der wohl einflussreichste Neubeginn der vergangenen Monate fand aber in der 1500 Kilometer entfernten Bundeshauptstadt Washington statt: Der Präsident heißt seit Januar Joe Biden, seine Vize Kamala Harris ist die erste schwarze Frau in dem Amt. Biden und Harris sprechen so klar und unbeirrt über den strukturellen Rassismus in den USA, wie wohl noch keine US-Regierung vorher.
Toussaint Morrison macht das nicht euphorisch. Der Rassismus in den USA sei noch genauso präsent wie vor einem Jahr - trotz politischem Wechsel in Washington, meint er. Ob „Black Lives Matter“ nun einen Verbündeten im Weißen Haus habe? „Ich würde nicht so weit gehen und 'Verbündeter' sagen. Ich würde sagen, dass es niemanden mehr im Weißen Haus gibt, der so offen rechtsradikal ist wie Trump.“ (dpa)
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