Brasiliens Polizei zieht Blutspur durch Favelas
In keinem anderen Land der Welt werden so viele Menschen von den Sicherheitskräften getötet wie in Brasilien. Präsident Bolsonaro findet: „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit.“ Doch bei den Razzien geraten auch immer wieder Unschuldige ins Kreuzfeuer.
Rio de Janeiro (dpa) - João Pedro Mattos war gerade 14 Jahre alt, als ihn eine Polizeikugel in den Rücken traf. Mit ein paar Freunden und Verwandten saß er im Haus seines Onkels zusammen, als die Polizei auf der Suche nach Drogenhändlern die Nachbarschaft in São Gonçalo durchpflügte. Die Beamten stürmten in den Hof und eröffneten das Feuer - João Pedro blieb in einer Blutlache liegen. Später sollten die Ermittler 70 Einschusslöcher in dem Haus zählen.
In keinem anderen Land der Welt kommen so viele Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben wie in Brasilien. Im vergangenen Jahr töteten Sicherheitskräfte 5804 Menschen, wie aus einem Gewaltmonitor hervorgeht, der vom Nachrichtenportal G1, dem Brasilianischen Forum für öffentliche Sicherheit und der Universität von São Paulo betrieben wird. Zum Vergleich: In den USA erschossen Polizisten im vergangenen Jahr 1098 Menschen, in Deutschland wurden 14 Personen von Beamten getötet.
Natürlich lassen sich die Verhältnisse sowie die Arbeitsbedingungen der Polizei in Europa nicht mit denen in Brasilien vergleichen: Viele Armenviertel werden von schwer bewaffneten Drogenbanden kontrolliert. Rückt die Polizei in den Favelas ein, um einen Haftbefehl zu vollstrecken oder nach Rauschgift zu suchen, werden sie nicht selten mit Salven aus Sturmgewehren empfangen. Die Operationen in den Ganglands von Rio de Janeiro und São Paulo gleichen eher Militäreinsätzen als Polizeimaßnahmen.
Menschenrechtsaktivisten werfen Polizei und Streitkräften allerdings vor, mit übertriebener Härte vorzugehen. „Polizeieinsätze mit einer hohen Opferzahl und exzessiver Gewaltanwendung, einschließlich des unnötigen Einsatzes tödlicher Gewalt, gefährden die Menschenrechte aller, einschließlich der Polizisten selbst“, hieß es in einer Stellungnahme von Amnesty International.
Tatsächlich sank die Zahl der im Dienst getöteten Beamten zuletzt: So kamen im vergangenen Jahr 159 Polizisten im Einsatz ums Leben - deutlich weniger als 2018, als noch 326 Beamte im Dienst getötet wurden. Auch die Tötungsdelikte insgesamt gingen im vergangenen Jahr um 19 Prozent auf 41.635 zurück. Nur die Zahl der von der Polizei getöteten Zivilisten steigt.
Immer wieder geraten Unschuldige ins Kreuzfeuer: Im vergangenen Jahr wurde ein achtjähriges Mädchen bei einem Gefecht zwischen Sicherheitskräften und einer Drogengang vermutlich von der Militärpolizei erschossen. In einem anderen Fall durchsiebten Soldaten das Auto eines Musikers mit 80 Schüssen - der Mann starb wahrscheinlich, weil die Militärs ihn mit einem Verdächtigen verwechselt hatten. Rund 75 Prozent der von der Polizei getöteten Menschen sind schwarz oder dunkelhäutig.
Keine Lösung in Sicht
Von Juan E. Alemann
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„Jeder, der aus einer Favela kommt, ist verdächtig“, sagt Neila Marinho, die in der riesigen Armensiedlung Complexo do Alemão in Rio de Janeiros lebt und selbst immer wieder ohne ersichtlichen Grund kontrolliert wird. „Die Polizei sollte nicht der Feind der Bevölkerung sein. Bei uns verstecken sich die Kinder schon, wenn sie nur einen Polizisten sehen.“
Beobachter kritisieren vor allem das militärisch geprägte Vorgehen der Spezialeinsatzkräfte, die aus ihrer Sicht bei Razzien in den Favelas wenig Rücksicht auf Unbeteiligte nehmen. Vor den Olympischen Spielen 2016 erprobte Rio einen neuen Ansatz: So genannte Befriedende Polizeieinheiten (UPP) wurden in den Favelas stationiert. Sie sollten in den Vierteln dauerhaft Präsenz zeigen und mit der Bevölkerung zusammenarbeiten. Doch das Projekt scheiterte, auch weil flankierende infrastrukturelle und soziale Maßnahmen fehlten. „Wir haben eine sehr schwere Niederlage dieses zivilisatorischen Projekts erlebt“, sagt der Spezialist für öffentliche Sicherheit von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro, Ignacio Cano. „Die UPP waren für uns und für die aufgeschlosseneren Teile der Polizei eine Gelegenheit, das Modell der Konfrontation hinter uns zu lassen.“
In der Millionenmetropole Rio de Janeiro stieg die Zahl der von Sicherheitskräften getöteten Menschen seit 2018 noch einmal deutlich an, als das Militär begann, sich an Polizeieinsätzen zu beteiligen. Kritiker machen auch das politische Klima für die Gewaltwelle verantwortlich: So schlug Rios Gouverneur Wilson Witzel vor, dass Scharfschützen aus Hubschraubern heraus auf Bewaffnete in den Favelas schießen sollen. Brasiliens rechter Präsident Jair Bolsonaro spricht sich dafür aus, dass Polizisten nicht juristisch belangt werden können, wenn sie im Einsatz Menschen töten. Der Hauptmann der Reserve findet ohnehin: „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit.“
Auch in anderen Ländern Lateinamerikas ist die Polizei wenig zimperlich. In Venezuela töteten die Sicherheitskräfte 2018 offiziellen Angaben zufolge 5287 Menschen. Zwar haben es auch die Beamten in Venezuela - einem der gefährlichsten Länder der Welt - oft mit schwerbewaffneten Gegnern zu tun, Menschenrechtsaktivisten werfen aber vor allem dem Spezialeinsatzkommando Faes vor, bei seinen Einsätzen auch gezielt Regierungsgegner zu töten.
In El Salvador, wo Polizei und Militär gegen mächtigen Jugendgangs wie Mara Salvatrucha und Barrio 18 kämpfen, töteten 2017 staatliche Sicherheitskräfte 407 Menschen. Das entsprach 10,3 Prozent aller Tötungsdelikte in dem mittelamerikanischen Land. Beobachter gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl sogar noch höher liegt, weil aktive und ehemalige Polizisten und Soldaten sich in illegalen Todesschwadronen zusammenschließen und Jagd auf mutmaßliche Bandenmitglieder machen.
Doch selbst mit exzessiver Gewalt lässt sich der Krieg gegen die Gangs in den lateinamerikanischen Elendsvierteln nicht gewinnen. Solange sie kaum eine Chance auf einen legalen sozialen Aufstieg haben, bleibt der Berufswunsch vieler Halbstarker in den Slums: Drogenboss. Wird ein Bandenchef gefasst oder getötet, stehen sie schon bereit, um in seine Fußstapfen zu treten. (dpa)
Im Blickfeld: Voll bis an den Rand
Von Stefan Kuhn
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